Lebensklänge
zu mir in diesem Kontext
Der Tod und das Sterben nehmen in meinem Leben seit meiner Kindheit einen stetig wachsenden Raum in einer geschützten Welt ein. Ich schreibe das bewußt so, da mir klar ist, daß das ein gewisser Luxus ist, der mir aber auch ermöglicht hat, Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen ich nun die Wahrnehmung in der Gesellschaft öffnen kann und auch Menschen individuell begleiten kann.
Ich habe mir nahestehende Menschen in den letzten Lebenswochen begleitet, habe von Sterbenden Botschaften für das Leben mitbekommen und habe manche sterben gesehen. Vor allem habe ich auf zahlreichen Beerdigungen selbst musiziert - über fast fünfzehn Jahre waren das die ausschließlichen Momente, in denen ich selbst ein Instrument ergriffen habe. Ich habe im Wald, in Kirchen und Krematorien gespielt. Ich hatte Blockflöte studiert. Anschließend habe ich mich aber auf das Komponieren und die Opernregie konzentriert und wie durch einen Zufall bis vor kurzem dieses Instrument nur für Beerdigungen ausgepackt. Das Instrument wird traditionell zwar auch dem Tod oder den Schäfern zugeordnet (Bach hat es beispielsweise nur für diese Anlässe verwendet), aber das es in meinem Leben so eine symbolische Kraft entwickeln würde, das habe ich erst vor kurzem gemerkt.
2019 starben innerhalb eines halben Jahres vier mir wichtige Menschen - darunter ein Ehepaar, innerhalb von drei Wochen. Die persönlichen Abschiede bei diesen vier Menschen konnten aus verschiedenen Gründen hauptsächlich nachträglich stattfinden. Meine Kinder haben Blumen zu ihnen ins Totenbett getragen, wir hatten - wie ich heute weiß - Glück, daß ein Palliativteam uns begleitet hat und einen guten Abschied im Haus ermöglicht hat.
Alle habe ich musikalisch verabschiedet, nicht nur selbst spielend. Es sind ganze Trauerkonzerte entstanden, die den Klängen und persönlichen Beziehungen der Menschen entsprachen. Momente, die den beiwohnenden Menschen einen innigen Abschied ermöglicht haben. Seither beschäftigt mich das Thema des Sterbens, des Abschiednehmens intensiv. Mit meinem Ensemble tō und dem renommierten Countertenor Kai Wessel setze ich mich seither mit dem Moment des Sterbens - Wenn die Seele geht - auseinander.
EIN KÜNSTLERISCHE FORSCHUNGSPROJEKT ZUM MOMENT DES STERBENS
tō beschäftigt sich seit bald fünf Jahren gemeinsam mit dem Moment des Sterbens, umkreist diesen Moment. Das Projekt ist geprägt von einem ensembleinternen intensiven Austausch in Wort und Klang sowie zahlreichen Gesprächen mit Expert*innen aus der Palliativmedizin, Sterbebegleitung, Personal aus Bestattungsinstituten sowie Trauernden und Quantenphysikern.
Aus diesem Prozess sind bisher einige künstlerische Produkte hervorgegangen: eine Interpretation von Purcells Dido and Aeneas, das multimediale Konzertprojekt Yomitō sowie individuelle Miniaturen: künstlerische Übersetzungen der individuellen und stark divergierenden Haltungen der Mitwirkenden. Im vergangenen Juli wurde das Projekt im Rahmen einer Tournee über öffentliche Plätze zum Austausch geöffnet, um mit Menschen zu diesem Thema in Kontakt zu kommen. Dieser Prozess wurde von der Death Doula und Journalistin Charlotte Wiedemann begleitet. Ende September 2023 kam das Ensemble für eine 12-stündige Performance im Alten Krematorium Zürich zusammen. Aus dem gewonnenen Material entsteht folgend ein multimediales Werk, das zunächst im Dezember 2023 digital erfahrbar sein wird.
Die beschriebenen Prozesse fordern eine kompositorische Präzisierung ein. Entstehen soll ein akustisch- visuelles Werk, dessen Parameter sich aus den individuellen Prozessen der Mitwirkenden als auch den gemeinsamen Prozessergebnissen definieren. Die Uraufführung wird am August 2024 im Zentralwerk in Dresden stattfinden.
LEBENSKLÄNGE
In den letzten Jahren habe ich durch die vielen Begräbnismusiken und die Arbeit mit tō mein kompositorisches Denken und Arbeiten erweitert. Ich habe erlernt, Klänge nicht nur in Beziehung von Thematik und mir zu schöpfen, sondern wachsam die Klänge anderer Menschen zu erspüren, wahrzunehmen und hörbar zu machen.